Andacht 1. Advent, 03.12.2023, Pfarrer Martin Hahn

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„ Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,

dass der König der Ehre einziehe!“ Ps 24

Der Advent ist die Zeit der Einkehr und der Geduld. Auch wenn unsere alljährliche Hektik auf Weihnachten hin das nicht unbedingt nahelegt. Die Tore weit und die Türen hoch zu machen, das bedeutet Stille werden, aufmerksam warten auf Gott. Aber wie geht das? Was ist Adventsgeduld? Darauf soll diese Andacht bedacht sein.

 

Gebet

Herr, du kennst uns und liebst uns, wie wir sind. Du kennst unsere Ungeduld mit der Welt und mit Dir. Unseren Hunger nach Frieden. Mach uns wach und klar, mach uns langmütig und freundlich für unsere Familien und Freunde. Gib, das wir zu dem Frieden für andere werden, den wir ersehnen.

Amen

Lied: Oh Heiland reiß die Himmel auf (EG 7,1-4)

Schriftlesung:

„ Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“ Ps 24

Liebe Leser*innen.

Während meines Studiums lebte ich in Hamburg und hatte eines Abends einen Termin. Ich dachte: „Ich spare Zeit und treibe etwas Sport, ich nehme das Nextbike um die Ecke“. Das tat ich dann auch, obwohl es zu regnen begann. Als ich ankam, merkte ich, dass ich mein Rad in der nächsten Andockstation nicht anschließen konnte, denn sie war voll. Ich hätte warten können, ob ein Platz innerhalb der nächsten 20 Minuten frei wird. Stattdessen checkte ich meine App und bemerkte, dass an der S Bahnstation einen Kilometer weiter weg noch ein Platz frei war.   Also fuhr ich zur Station, brachte das Rad zurück und lief zu meinem Termin zurück, den ich mit Ach und Krach einhalten konnte. Ich war rechtzeitig da, ich war pitschnass, denn es pladderte, wie man im Norden so sagt. Sind Sie ein geduldiger Mensch? Ich frage mich, ob Sie im Regen gewartet hätten, oder ungeduldig zu jeder Andockstation in der Nähe geradelt wären, egal ob sie voll war oder nicht, oder ob Sie so vernünftig gewesen wären, das Fahrrad gar nicht erst zu nehmen. Ich frage mich, was Warten eigentlich für Sie bedeutet und ob Sie schon sehr lange auf etwas gewartet haben. Ich möchte über das Eigenartige des Wartens und der Geduld nachdenken. Zwei Beispiele möchte ich anführen, die Problem verdeutlichen.

Beginnen wir mit Samuel Becketts zweiaktigem Stück “Warten auf Godot“. Es ist ein gemeines irisches Meisterwerk. Zwei Männer, Vladimir und Estragon, warten neben einem Baum auf einen anderen Mann namens Godot. Sie sind sich nicht sicher, ob sie Godot schon einmal begegnet sind oder ob er kommen wird, aber sie warten weiter. Die beiden Figuren bleiben während des gesamten Stücks unbeweglich. Ein paar andere kommen kurz vorbei und sprechen mit ihnen. Die beiden Hauptfiguren kehren zu den Themen zurück, die sie zuvor behandelt haben, und wiederholen manchmal die gleichen Sätze. Gegen Ende des ersten Aktes erscheint ein Junge und sagt, er sei ein Bote für Godot. Im zweiten Akt warten Wladimir und Estragon weiterhin an demselben Baum, aber der Baum hat mehrere Blätter bekommen, so dass es scheint, als sei die Zeit vergangen. Der Junge kehrt zurück und sagt, dass Godot heute nicht kommen wird. Wladimir und Estragon denken an Selbstmord, aber sie haben keinen Strick. Der Vorhang fällt. Im Original lautet der Titel „Waiting for Godot“. Wenn man die letzte Silbe des Titels weglässt, kann man die Geschichte als eine schonungslose Kritik des Christentums lesen. Der Baum steht für das Kreuz Christi; die beiden Figuren sind sich nicht sicher, ob sie eine vollständige Offenbarung Gottes erfahren haben oder nicht, aber sie sind bereit, dass Gott kommt und alles in Ordnung bringt. Wie Mitglieder einer millenaristischen Sekte sind Vladimir und Estragon ganz auf die Erwartung des Erscheinens Gottes eingestellt. Doch ihre Geduld wird nie belohnt werden: Sie warten auf jemanden, der nie kommen wird und nicht existiert. Samuel Beckett parodiert nicht nur das Christentum, sondern jede Sinnsuche, die davon ausgeht, dass wir gerade dabei sind, den Sinn unseres Lebens zu entdecken. Für Beckett sind wir eher wie die antike griechische Figur Sisyphos, der die absurde Aufgabe erhält, einen unmöglich schweren Felsen einen Berg hinaufzuschieben. Sisyphos kann seine Aufgabe nie erfüllen. Er versucht es einfach für den Rest seines Lebens weiter. Der Witz des Stückes geht auf unsere Kosten, wenn wir versuchen, einen Sinn zu finden oder auf die Offenbarung zu warten. Sie wird nicht kommen. Was einen beim Betrachten des Stücks wütend macht, ist, wie passiv Wladimir und Estragon sind. Wenn Christus käme, so die traditionelle christliche Überzeugung, würde er sicher nicht wollen, dass wir unsere Tage mit fruchtlosen Debatten vertrödeln. Das zweite Beispiel stammt aus meiner Zeit als Telefonseelsorger. Nennen wir sie Agnes. Sie heiratete früh einen Mann, der bei einem Unfall schwer verwundet und gelähmt wurde. Er konnte kaum noch direkt mit ihr sprechen, nur durch Laute, nicht mehr durch Sprache. Sie pflegte ihn Jahr um Jahr um Jahr, stellte ihre eigenen Bedürfnisse nach Nähe und Intimität zurück und verbrachte damit 30 Jahre ihres Lebens hingebungsvoll und zurückgezogen. Schließlich starb der Mann und Agnes war gleichsam frei. Sie lernte mit 65 einen zweiten Mann kennen und heiratete ihn. Ohne dieses Wunder der Hingabe zu leugnen: ist Agnes‘ Beispiel die einzige Möglichkeit, Geduld zu verkörpern? Muss die Geduld, langmütig, völlig selbstlos, fast unmöglich perfekt und am Ende engelsgleich sein? Ich glaube das nicht. Ich erinnere mich an einen Satz, der ursprünglich von dem Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche geprägt wurde. Nietzsche sprach von Geduld als einem „langen Gehorsam in dieselbe Richtung“. (Jenseits von Gut und Böse – Kap. 5) Damit ist etwas anderes gemeint als das, was wir über Vladimir, Estragon oder Agnes wissen. Man ist kein absurder Narr wie Wladimir und Estragon; man übt auch keine treue Selbstverleugnung wie Agnes; gemeint ist dennoch eine Geduld, die sie alle drei überdauert. Mein Beispiel dafür ist das Leben des islamischen Theologen Milad Karimi. Er wuchs auf als Sohn des Schulleiters der deutschen Schule von Kabul, in einer Zeit, als Afghanistan noch durch die Russen besetzt war. Dann kamen die Taliban und nahmen seiner Familie alles. Der Vater durfte nicht mehr unterrichten und wurde mit dem Tod bedroht, die Mutter, eine Ärztin mit eigener Praxis, sollte überhaupt nicht mehr arbeiten. Die Familie beschloss, zu fliehen. Deutschland gewährte kein Asyl, obwohl der Vater hier studiert hatte, also floh man nach Indien, von dort wiederum per Flieger nach Russland, und dann per Schleuser mitten im russischen Winter bis nach Deutschland. Hier angekommen wuchs er in den frühen 90igern in Armut auf, ging zunächst in die Hauptschule, lernte dort deutsch, wechselte schließlich aufgrund seines fleißigen Charakters auf das Gymnasium. In einem Interview mit seinem Kunstlehrer, das auf Vimeo veröffentlicht wurde, erzählt er seine Geschichte. Seine Familie hatte so wenig Geld, dass er als Kind zunächst einen rosa Schulranzen trug, eine Spende, für den er viel Häme einstecken musste. Er spielte Fußball, aber ohne Knieschoner, soetwas war zu teuer. Seine Familie hatte alles verloren, den Stand, die Sprache, die Kultur, alles. Aber er hatte gelernt, dass Gott einem alles wegnehmen kann, bis auf das, was man im eigenen Kopf hat. Das wird erst gehen, wenn man selber die Bühne verlässt. Darum scherte es ihn nicht. Er wollte nur noch Wissen, Besitz, war ihm egal. Auf dem Gymnasium lernte dort einen Philosophielehrer kennen, der schenkte ihm ein Buch mit Zitaten der abendländischen Philosophie. Er lernte es auswendig. Konnte kaum deutsch, aber schon Platonzitate. Später studierte er anfangs gegen den Willen der Eltern deutsche und arabische Philosophie, übersetzte den Koran, wurde Professor für Kalam in Münster. Er ist jetzt damit betraut mit der   Ausbildung der ersten muslimischen Theologen dieses Landes, die sich dem importierten Fundamentalismus in unseren Moscheen stellen. Er moderiert die „Sternstunde Religion“ im Schweizer Fernsehen. Mit Recht, sein Leben ist eine solche Sternstunde. Dieser Mann hat als Kind erlebt, was Fundamentalismus ist, und er hat sein Leben der Aufgabe gewidmet, diese Religion in unserem Land gegen den Fundamentalismus zu wappnen. Er ist weit entfernt von seinem Ziel. Aber sein Gehorsam geht stetig in die gleiche Richtung, im Grunde seitdem er selbstständig denken kann. Es gibt einen guten Satz der das alles einfängt. Er stammt aus der Heartedge-Bewegung, über deren Vordenker ich meine Doktorarbeit schreiben darf. Er ist sich der negativen Stimmung von Wladimir und Estragon und der Selbstverleugnung von Agnes bewusst. Er funktioniert auch noch, wenn man an das Zeugnis von Menschen wie Milad Karimi bedenkt. Er weiß, dass Geduld nichts mit Passivität oder rasender Ablenkung zu tun hat. Er lautet: „Geduld bedeutet, wegen einer Sache lange Zeit ungeduldig zu sein“. Das ist Adventsgeduld. Nicht untätiges Warten. Nicht aufopferungsvolle Selbstlosigkeit. Sondern ungeduldig sein wegen einer Sache für eine lange Zeit. Das ist es, was ein langer Gehorsam in dieselbe Richtung wirklich ist. Und wenn Sie darüber grübeln, was dieser lange Gehorsam und diese Ungeduld in Bezug auf eine Sache für Sie bedeutet, bedenken Sie dies: Alle Geduld hat als Vorbild die Geduld Gottes. Im Grunde ist es Gott, der einen langen Gehorsam in dieselbe Richtung hat. Gott wartet nicht untätig, sondern ist uns in Jesus nahe, gibt uns Grund zur Hoffnung und trägt schließlich an seinem eigenen Körper die Narben seines Einsatzes für uns. Jesus, das ist der lange Gehorsam Gottes in dieselbe Richtung. Gottes Geduld ist genau das: Gott ist ungeduldig – leidenschaftlich ungeduldig, wahnsinnig ungeduldig, hingebungsvoll ungeduldig – in Bezug auf eine Sache für eine lange Zeit. Und diese Sache sind wir.

 

Es grüßt Sie herzlich, Ihr Martin Hahn

Lied: Die Nacht ist vorgedrungen, 1-3 (EG 7)

Fürbittengebet / Vaterunser

Vater, ich bitte dich für die Verarmten, für die Vereinsamten, für die Menschen, nach denen niemand schaut. Die sich vielleicht auch aus Angst der Gemeinschaft entziehen. Hülle Sie in den Mantel deiner Liebe. Stelle sie uns jetzt vor Augen, gib, dass Sie in unsere Mitte finden. Wir rufen gemeinsam: Herr erbarme dich.

Vater ich bitte dich für die Fröhlichen, die Unverwüstlichen, die das Geschenk des Lebens feiern. Behüte Sie und bewahre ihr Glück. Wir rufen gemeinsam: Herr erbarme dich.

Vater, ich bitte für uns selbst: schenke uns liebende Ungeduld und ein Ziel, auf das wir sie richten können. Schenke uns aber auch immer wieder Kraft und Ruhe, dass wir uns verpusten können in dem Trubel dieser Tage. Wir rufen gemeinsam: Herr erbarme dich.

In der Stille nennen wir dir die Geschwister, die wir besonders im Herzen tragen.

Wir beten gemeinsam:

Vater unser…

Segen

Der Herr segne dich und behüte dich; er lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; er erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden. Amen

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